Die Ausstellungsreihe „Die andere Seite“ ist nach Alfred Kubins einzigem und gleichnamigem Roman benannt, der vom Künstler selbst innerhalb von nur vier Wochen illustriert und zum Wegbereiter des deutschsprachigen Surrealismus wurde. Die Ausstellung wird eine Auswahl bildträchtiger Schlüsselstellen des Romans von den Künstler/innen der Künstlervereinigungen Vereinigung Bildender Künstler Steiermarks, Künstlerbund Graz und des Steiermärkischen Kunstverein Werkbund nach und in freier Interpretation zeigen. Über die drei Ausstellungen verteilt sind mit dem Roman korrespondierende Zeichnungen, Gemälde und Skulpturen zu sehen, die eigens für diesen Ausstellungsreigen 2013 entstanden sind. Jede der drei Vereinigungen hat sich einem Teil des insgesamt dreiteiligen Romans für die Bearbeitung intensiv gewidmet.
Unter dem Titel „WEG“ nähert sich die Vereinigung Bildender Künstler Steiermarks den ersten zwei Kapiteln des ersten Teils der Romanvorlage:
„Weg vom Vertrauten und hin ins Ungewisse. Dieser von Alfred Kubin in den ersten zwei Kapiteln Besuch und Reise beschriebene und ‚vorgezeichnete’ Weg dient der Vereinigung Bildender Künstler Steiermarks als Anhaltspunkt und Ausgangspunkt eigener künstlerischer Wege zur „Anderen Seite“ – der noch unbekannten Seite. Das fiktive Reiseziel des Protagonisten Kubins, die Traumstadt Perle, wird hierbei zur Metapher unterschiedlichster Lebens-Traum-Ziele bis hin zum letzten Lebensziel, dem Tod; die Reise dorthin wird somit zur Metapher des Lebens schlechthin. Die künstlerischen Auseinandersetzungen mit der Thematik sind so kontrastreich wie die Reisebeschreibungen Kubins: realistisch bis surreal, naturalistisch bis abstrakt, glühend heiß bis eisig kalt und dazwischen in ein kühles Grün getaucht.“
(Pamela Kircher, Vereinigung Bildender Künstler Steiermarks)
Während die Wahl des Künstlerbundes Graz auf das schwierige vierte Kapitel „IM BANN“ des zweiten Teils fiel:
„Die fortdauernde Reise ins Traumreich nimmt hier sein Ende – auf der anderen Seite – verbannt in einen Zustand jenseits der vermeintlichen Normalität und dem natürlichen Kreislauf der Welt. Nie scheint hier die Sonne, nie der Mond, farblos und wie in einer ewigen Beängstigung dämmert das Reich unter einem stets gleichmäßigen Himmel. Hier ist man IM BANN, gefesselt und verzaubert von einer unerklärlichen magischen Kraft, die auf die Masse einwirkt und sich gegenseitig beeinflusst. Selbst dem Individuum fällt es unbewusst schwer und schwerer, sich aus dem sozialen Netz mit all seinen systemrelevanten Institutionen und gesellschaftlichen Mitteln dieses surrealen Reiches zu befreien, im Bann des Schweigens und der Sicherheit herrscht die Beeinflussung von fremden Mächten, Menschen, Gesetzen, Orten und universalen Kräften. In dieser systematischen Traumwelt ist man anscheinend gefangen und gleichzeitig verzaubert im Kunstwerk des Lebens selbst…“
(Michael Birnstingl, Künstlerbund Graz)
Ehe sich der Steiermärkischer Kunstverein Werkbund der letzten Züge des Traumreichs in „HÖLLE“ des dritten und letzten Teils als Grundlage zur künstlerischen Nachlese annimmt:
„Dieses Changieren in der Auseinandersetzung, eben einerseits verschlossene Ateliertüren während der künstlerischen Arbeit und diese visionäre, chaotische Kapitalismus-Satire Alfred Kubins als Vorlage für jene andererseits. Die Schwierigkeiten in der Rückkehr von den abgründigen Träume des Kubin´schen Traumreiches in die eigenen Realitätsgrenzen zurück erwiesen sich als höchst kreativ nährend für diesen und in diesem spannenden Dialog.“
(Curt Schnecker, Steiermärkischer Kunstverein Werkbund)
Textpassagen an den Wänden der Ausstellungsräume werden zusätzlich den surrealen Handlungsverlauf des Klassikers Kubins verdeutlichen, wobei etwaige Ähnlichkeiten des Situationsplans der im Roman beschriebenen Stadt Perle mit der tatsächlichen geografischen Lage von Graz aber zufällig bleiben.
Derlei spezifische Fragen nach einem künstlerischen Umgang mit und der Kritik an Elementen der Narration, die Interpretation von Erzähltechniken und Wissensordnungen generell bilden seit geraumer Zeit einen wesentlichen medienübergreifenden Schwerpunkt zeitgenössischer Kunst. In Folge dessen umkreisen diese Ausstellungen jene Themen anhand punktueller Erzählmomente einer hier auch besonders vielfältigen Autorenschaft innerhalb dieser Reihe: Nicht die 1:1 Bebilderung einer fantastisch düsteren Geschichte soll dabei im Vordergrund stehen, auch Reflexionen über die eigene Praxis und Kommentare zum aktuellen Zeitgeschehen sind hier optionaler Teil der künstlerischen Auseinandersetzung.
Ein vormodernes Erzählen mit Anfang, Mitte und Ende, mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit ist heute angesichts galoppierender medialer Möglichkeiten weniger denn je möglich. So lässt sich der beiden französischen Philosophen Félix Guattaris und Gilles Deleuzes einstiger Aufruf, der sich zwar vordergründig auf das Lesen eines Buches bezog, auch mit Leichtigkeit auf jegliche Form eines Narrativs in der Postmoderne übertragen. Dieser Aufruf skizziert somit einen mit dieser Serie zu unterstreichen versuchenden künstlerischen Umgang:
„Findet die Stellen [...], mit denen ihr etwas anfangen könnt. Wir lesen und schreiben nicht mehr in der herkömmlichen Weise. Es gibt keinen Tod des Buches, sondern eine neue Art zu lesen. In einem Buch gibt’s nichts zu verstehen, aber viel, dessen man sich bedienen kann. [...] Das Buch ist kein Wurzelbaum, sondern Teil eines Rhizoms, Plateau eines Rhizoms für den Leser, zu dem es paßt. Die Kombinationen, Permutationen und Gebrauchsweisen sind dem Buch nie inhärent, sondern hängen von seinen Verbindungen mit diesem oder jenem Außen ab. Ja, nehmt was ihr wollt.“
Gilles Deleuze, Félix Guattari: Rhizom, Merve Verlag, Berlin 1977, S. 40/41.
So ist insgesamt und abschließend auch nicht die kuratorische Auswahl von Einzelpositionen für eine Jahresausstellung Schwerpunkt dieser Ausstellungsserie der Künstler/-innenvereinigungen, sondern das Aufzeigen der Vielfalt der künstlerischen Ansätze in aktiver Auseinandersetzung mit einer visuell fordernden Themensetzung. Über die Einzeltermingrenzen hinweg kann sich die Reihe „Die andere Seite“ in ihrer Gesamtheit dem Publikum in einem spannenden und nachvollziehbaren Bogen präsentieren.