Für dieses Jahr und dem darin geplanten Ausstellungsreigen der steirischen Künstlervereinigungen Künstlerbund Graz, Steiermärkischen Kunstverein Werkbund und der Vereinigung Bildender Künstler Steiermarks gilt wieder ein Buch als Ausgangspunkt der Konzeption und der inhaltlichen künstlerischen Auseinandersetzungen: der utopische Roman „News from Nowhere“ (Kunde von Nirgendwo) aus dem Jahre 1890 von William Morris, ein außergewöhnlich vielseitiger Künstler, britischer Maler, Architekt, Dichter, Kunstgewerbler, Ingenieur, Drucker und zudem Gründer des Arts and Crafts Movement und frühen Begründer der sozialistischen Bewegung in Großbritannien.
Die darin geschilderte Utopie stellt einen Gegenentwurf zu den gesellschaftlichen Verhältnissen der Zeit dar, in der sie geschrieben wurde, kann zwar weder ohne die zeitgeschichtlich-politischen Bezüge, noch ohne den Hintergrund der Biografie ausreichend verstanden werden, überzeugt aber durch seine bildhafte Sprache bis heute. William Morris stellt darin nicht die Produktion, sondern die menschlichen Bedürfnisse an den Ausgangspunkt seiner gesellschaftlichen Analyse. Die von ihm in den Vordergrund gerückte Veränderung der Bewertung von Gütern, Arbeit und Produktivität und die damit verbundene Theorie der künstlerischen Tätigkeit ist überraschend aktuell, des heutigen Nachdenkens wert und liefert weitreichend Anknüpfungspunkte zu künstlerischer Vertiefung. Dass Morris in seinen „News from Nowhere“ weder seinen politischen noch seinen künstlerischen Standpunkt aufgibt, lässt einen utopischen Umweltentwurf von besonderer Sinnlichkeit und Sensibilität entstehen – und was ihn auch gerade für diesen Ausstellungsreigen empfiehlt – eines ästhetisch Erfahrbaren. Wie kaum ein anderer verstand er es, Kunst und gesellschaftliche und politische Ideen mit dem Leben zu verbinden. Er benannte nicht nur die Grenzen zwischen Kunst, Handwerk und Leben sondern wollte sie gar sprengen. Morris gehört gerade auch deshalb zu den heute aktuell gebliebenen Utopisten der Vergangenheit, weil er die Verknüpfung von Ökologie und Herrschaftsabbau für eine wirkliche Verbesserung menschlichen Lebens als unabdingbar voraussetzt und weil er die individuellen Freiheitsrechte genauso in den Mittelpunkt rückt wie die notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen.
Der deutsche Sprachforscher Max Nettlau etwa meinte über den in jüngster Vergangenheit im deutschsprachigen Raum zweifach neu aufgelegten Klassiker: „Die ‚Kunde von Nirgendwo’ ist vielleicht die schönste moderne Darstellung des freiheitlichen Sozialismus: das reife Werk eines kultivierten und gelehrten Menschen, eines Dichters, Künstlers und Meisters der angewandten Künste, von natürlicher Kraft und Gesundheit, durchdrungen von einem Sozialismus, der auf menschlichen Bedürfnissen und sozialem wie revolutionärem Wollen gegründet ist wie auf dem Verlangen nach Schönheit und Harmonie. Und dieser Mann war etwa ein Jahrzehnt lang ein Kämpfender, er engagierte sich in allen Notwendigkeiten einer jungen Propaganda, aufopfernd, ohne persönliche Ambitionen. Für einen vollständigen Sozialismus, der den ganzen Menschen umwandelt und nicht nur bei einigen Fragen der Ökonomie und Verwaltung stehen bleibt, im Vertrauen auf neue Chefs, die eine Wählerschaft anziehen und auf Organisationen mit meist nominellen Mitgliedern, womit nie ein wahrer Sozialismus erreicht werden wird. Das geschah in England in den Jahren von 1880 bis 1890, in ganz London und seinen Vororten – denn Morris verlor nie den Kontakt mit dem Land, wie auch sein Geschmack und seine Werkstätten ihn immer wieder in die Blütezeit des Mittelalters führten, in die Zeit der freien Städte; der Künstler, die zugleich Handwerker waren. Sein Bewusstsein von den Übeln der Gegenwart, von der uniformen Hässlichkeit des triumphierenden Kapitalismus, sein Wille, dem ein Ende zu setzen, führte ihn in die Zukunft; zu Visionen, deren schönstes Produkt die ‚Kunde von Nirgendwo' ist.”
Anhand eigenständiger Ausstellungen zeigt der prozesshaft entwickelte Zyklus „News from Nowhere“ die Spezifik der Künstlervereinigungen in einem für die Öffentlichkeit nachvollziehbaren Spannungsbogen, der von möglichst neu entstandenen Arbeiten der einzelnen Teilnehmer/innen entwickelt und getragen wird.
Aus dem Vorwort von Wilhelm Liebknecht aus dem Jahre 1892 zitiert Michael Birnstingl vom Künstlerbund Graz, der den Anfang des Ausstellungsreigens "News from Nowhere" nach William Morris gestaltet:
„Ja, wo liegt Nirgendwo? Nun, wo soll es liegen? Welches Nirgendwo? Welches von den vielen Tausend und Hunderttausend, Millionen und Billionen Nirgendwos, die es gegeben hat, gibt und geben wird, solange der Mensch etwas anderes ist als eine selbsttätige Maschine aus Fleisch und Blut? Hat doch jeder sein Nirgendwo – und die meisten nicht bloß eines, sondern mehrere, viele. Und das einzige, was wir über die Lage von Nirgendwo wissen, ist, daß es nicht da liegt, wo wir sind.
Nirgendwo, das ist die Welt der Wünsche, der Träume, der Ideale. Die Fee, welche dem großäugigen Kind die Leidens- und Glücksgeschichte Schneewittchens und des Aschenputtels erzählt, sie kommt von Nirgendwo; Die Musen, welche dem Jüngling den Hengst satteln 'zum Ritt ins alte romantische Land', sie kommen von Nirgendwo; ... Die Ruhe, die Sorgenlosigkeit, die dem arbeitenden Mann, der arbeitenden Frau während des nie rastenden Kampfes um das Dasein als Fata Morgana vorgaukelt, sie wohnt in Nirgendwo; und der Siegeslorbeer, nach dem der sterbende Fechter schaut – er winkt aus Nirgendwo.
Nirgendwo, das Land der Wünsche, der Träume, der Ideale, der Zukunft. Das Land der Zukunft – die kommende Zeit. ... In die Zukunft flüchten sich die Wünsche. Alles Schöne und Gute, das die Gegenwart mit rauher Hand zurückweist, flieht in die schrankenlose, unbegrenzte, allem und allen Raum bietende, schimmernde Zukunft.
Immer weiter dringt der Menschengeist vor – Reich um Reich erobert er – doch niemals hat er genug; Ungeduldig – und wäre das Reich noch so groß – läßt er den Blick über die Grenze hinwegschweifen, will wissen, welche neuen Reiche der morgige Tag ihm erschließen wird.“