Die Zeichnung der Gegenwart hat sich in den letzten Jahrzehnten maßgeblich von anderen Kunstgattungen emanzipiert. Kunstschaffende arbeiten heute mehr als früher vorwiegend oder ausschließlich in dieser Disziplin. Dabei machen sie sich die Charakteristika und Besonderheiten der Zeichnung zunutze und beziehen diese auch inhaltlich in ihre Werke ein. So dient die Zeichnung oftmals dazu, bereits vorhandene Bildinhalte in andere Medien zu übersetzen, um in diesen leicht veränderten Darstellungsweisen erneut Aufmerksamkeit für vertraute Abbildungen zu generieren. Dies ist eine Methode, die auch Sonja Gangl in ihren fotorealistischen Zeichnungen einsetzt. Darüber hinaus thematisiert Gangl den Aspekt der Zeit, indem sie sich mit dem Zeichnen bewusst einem langen und aufwändigen Arbeitsprozess unterwirft. Das Zeichnen entspricht einer Entschleunigung, einem Innehalten, bei dem sich die Künstlerin einem Sujet mit voller Hingabe widmet. Auch eine dritte Eigenschaft der Zeichnung, die unterschiedlichen Wirkungen bei Distanz und Nähe, bezieht Gangl in ihr Schaffen ein: Einzelne Striche, Schraffur und Textur sind nur in der Nahsicht erkennbar und entlarven erst so das eigentliche Werk. In ihrer neuesten Werkgruppe „Supra-Linien“ (2019) vereint Sonja Gangl viele dieser erwähnten Aspekte, auch wenn es sich bei eben dieser gerade nicht um Zeichnungen, sondern um Gemälde handelt. Ausgangsbasis sind aber dennoch Zeichnungen – Kritzeleien –, die nebenbei oder in Vorbereitung einer tatsächlichen Zeichnung entstehen. Mit welchen Strategien und künstlerischen Überlegungen wir es darüber hinaus zu tun haben, wird Elsy Lahner in ihrem Vortrag „Malerei als große Zeichnung“ erörtern.
Elsy Lahner (*1975 Frankfurt am Main, lebt in Wien) ist seit 2011 an der Albertina in Wien Kuratorin für zeitgenössische Kunst mit dem Schwerpunkt Zeichnung. Zu ihren jüngsten Ausstellungen zählen eine Überblicksausstellung zur Zeichnung der Gegenwart, Drawing Now: 2015, Keith Haring: The Alphabet (2018) gemeinsam mit Dieter Buchhart, Retrospektiven zu Florentina Pakosta (2018) und Hermann Nitsch (2019) sowie jüngst die Ausstellung A Passion for Drawing. Die Sammlung Guerlain aus dem Centre Pompidou (2019/20). Davor arbeitete sie als freie Kuratorin und gründete wie leitete von 2007 bis 2011 mit Alexandra Grausam den Ausstellungsraum das weisse haus.