Der Titel von Julia Weißenbergs in der Reihe „Raum D: Digitale Projekte“ im August 2018 gezeigtem Video deutet ein thematisch erfrischendes Kontrastprogramm zu den hochsommerlichen Temperaturen an. Benannt ist das Video „Schneesturm“ (2017) nach dem Titel des 1842 vollendeten Gemäldes „Snow Storm – Steam-Boat off a Harbour’s Mouth” des englischen Romantikers Joseph Mallord William Turner. Weißenbergs Video hingegen beschäftigt sich mit dem Memorieren von Binärziffern, inszeniert als emotionsverhaftete Anstrengung, und der Kontrastierung der Ästhetik des Digitalen mit dem traditionellsten aller künstlerischen Medien, der Malerei.
Turner zeigt in seinem Gemälde ein in einen schweren, tosenden Schneesturm geratenes Dampfboot. Der damals neuartigen Technologie der Dampfschifffahrt wird so im Medium der Malerei eine ursprüngliche Naturgewalt gegenübergestellt. Das „Ausgangsmaterial“ für Weißenbergs Video liefert das digitale Foto eines Kunstdrucks dieses Gemäldes. Der Binärcode, auf dem der Kunstdruck basiert, dient wiederum einer Gedächtnissportlerin als Grundlage für einen Gedächtnistest. Cornelia Beddies – mit diesem Namen wird die Protagonistin im vorgeschalteten Einleitungstext vorgestellt – zählt zu den besten Gedächtnissportlerinnen der Welt. Das Memorieren von Binärziffern gilt als ihre Lieblingsdisziplin.
Weißenbergs Video vollzieht zunächst eine materielle Verdoppelung: Es zeigt einen Kunstdruck im digitalen Bild, also dem Material, aus dem dieses hervorging, zudem die numerische Information, auf der dieses beruht. Mit dem Terminus „Schneefall“ wird außerdem ein Bezug auf das „weiße Rauschen“ bzw. Bildrauschen im analogen Video oder im Fernsehen hergestellt, also auf das zufällige Pixelmuster einer anachronistischen Technik, das etwa auftritt, wenn die Antenne eines Fernsehgeräts kein Signal empfängt. So wird im Spannungsfeld zwischen Malerei und digitalem Bild noch auf ein Dazwischen verwiesen.
Während des nüchtern und dokumentarisch dargebotenen Gedächtnistests erfasst die Kamera die Bildvarianten von Turners Gemälde. Das Video endet schließlich in der Tate Britain in London, wo sich des Original von „Snow Storm – Steam-Boat off a Harbour’s Mouth” befindet. In Turners Bildsprache findet eine Entmaterialisierung des Gegenständlichen statt, in der die Pigmente zu toben und herumzuwirbeln scheinen. Julia Weißenbergs Video dagegen baut sich aus den nüchtern visualisierten Ziffern einer Binärabfolge auf. Sie stellt die Frage nach dem Bild in einer Zeit, in der das Digitale das Analoge bereits im Alltag zu überbieten scheint.
Julia Weißenberg (*1982 Bergisch Gladbach, lebt in Köln) studierte Medienkunst an der Kunsthochschule für Medien Köln und Kommunikationsdesign an der Fachhochschule Düsseldorf. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Förderungen, u.a. den Förderpreis des NRW-Wettbewerbs der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen (2018), den 25. Videokunstförderpreis der Stadt Bremen (2017) und das Chargesheimer-Stipendium für Medienkunst der Stadt Köln (2014). Einzelausstellungen von Weißenberg zeigten u.a. das Goethe-Institut Peking (2017), Matjö, Köln (2016) und Total, Melbourne (2015). In Gruppenausstellungen war sie u.a. vertreten in „Die Stadt dringt in das Haus“, Museum of Modern Art, Moskau / Simultanhalle, Köln (2017), „Mies van der Rohe. Die Collagen aus dem MoMA“, Ludwig Forum, Aachen (2016) und „Pavillon“, Villa Romana, Florenz (2016).
Mit der neuen Reihe „Raum D: Digitale Projekte“ ergänzt das Künstlerhaus als Halle für Kunst & Medien seine Programmatik und bietet den Besucher_innen Einblicke in die Praktiken junger medienkünstlerischer Positionen. Zwar als offenes Format konzipiert, orientieren sich die von Mai bis September 2018 gezeigten Arbeiten vornehmlich an Schlagworten wie Bewegtbild und Digitalität.