Das künstlerische Werk von Sonja Gangl zeugt von einer intensiven Auseinandersetzung mit unserer medialisierten Lebenswirklichkeit. Die Künstlerin macht unsere Welt zu ihrem Motiv und lässt dabei keine ihrer vielen Facetten außer Acht. Bekannt ist die österreichische Künstlerin vor allem für ihre herausragend naturalistischen Zeichnungen und die konsequente Hinterfragung dieses Mediums. Mit ihrer Einzelausstellung „I borrowed optimism from the past“ im Künstlerhaus, Halle für Kunst & Medien schlägt Gangl nun ein neues Kapitel in ihrem künstlerischen Schaffen auf und wendet sich mit einer umfassenden Neuproduktion der Abstraktion zu.
Im Zentrum der Ausstellung steht der Werkzyklus „Supra-Linien“ (2019/20). Die in Vorbereitung des Projekts entstandenen 15 großformatigen Gemälde zeigen grafitfarbene Schraffuren unterschiedlicher Stärken auf weißem Grund. Ihre Kompositionen erscheinen zunächst zufällig. Bei näherer Betrachtung verkehrt sich dieser Eindruck jedoch in sein Gegenteil: Die gemalten Motive der Serie gehen auf Blei- und Farbstiftzeichnungen zurück, welche die Künstlerin während ihrer Arbeit an früheren naturalistischen Bildsujets anfertigte, um das Zeichenmaterial im Sinne des Ausprobierens der Stärke und Qualitäten der verwendeten Stifte zu präparieren – die von ihr so benannten „Supra-Linien“. Als künstlerisches Konzept überführt Gangl hier die Zeichnung in einem Transformationsprozess in das Medium der Malerei und eröffnet damit eine Art Zoom in die Struktur des Materials.
Zugleich lehnen sich die „Supra-Linien“ an das kunsthistorische Vorbild des Abstrakten Expressionismus der späten 1940er bis frühen 1960er Jahre an und übertragen dessen politische Botschaft in die Gegenwart. Sie sind gekennzeichnet durch einen Gleichschritt mit ihren künstlerischen Ahnen, die den Folgen des 2. Weltkrieges und dem Exil in Übersee mit einer Konzentration auf monumentale Formate, einem starken Freiheitsdrang und einem emotional geleiteten Schaffensakt begegneten. Gangl borgt sich dabei nicht nur den Optimismus der nordamerikanischen Kunstrichtung aus, sondern auch die Bildformate von Künstler_innen wie zum Beispiel Lee Krasner, Barnett Newman und Mark Rothko. Jedes ihrer Gemälde steht so in direkter Referenz zu einem kunsthistorischen Meisterwerk und stellt immer wieder aufs Neue die Frage nach dem Zustand der Mitte des 20. Jahrhunderts erstrittenen Errungenschaften im künstlerischen, aber auch im gesellschaftlichen Feld. Im Schlaglicht der Show steht mit den „Supra-Linien“ auch einer der ein Bild konstruierenden geometrischen Grundfaktoren, die Linie. Diese Weiterführung eines Ortes (Punktes) bedeutet immer einen Weg, eine Richtung. Schon der Ausstellungstitel „I borrowed optimism from the past“ lässt vermuten, dass es Sonja Gangl ausgehend von der erläuterten Interpretation der Kunstgeschichte um den Weg durchs und die Sicht aufs Hier und Jetzt geht.
Die Zeichnung und die ihr innewohnende Fokussierung und Reduktion auf das Detail und das Wesentliche verbindet seit Jahrhunderten die Kunst mit der Wissenschaft. Es ist also nicht verwunderlich, dass die künstlerische Aneignung der Realität der Zeichnerin Sonja Gangl einer Studie, einer Untersuchung, gar einer Sezierung gleichkommt. Dies ist auch bei Werken bemerkbar, die an sich gar keine Zeichnungen sind: Die Videoinstallation „Who´s Afraid of Flies, Flies and Flies“ (2018/2020) in der Apsis des Künstlerhauses zeigt die dreifache Projektion einer schwarz-weißen Nahaufnahme einer Fliege. In einem starken Hell-Dunkel-Kontrast offenbart sich das detailreiche Abbild des Insekts mit seinen fragilen Flügeln und Beinen. Die überlebensgroßen Körper vollziehen den Putzvorgang wie die mehrstimmige Choreografie eines Kanons: Die Fliegen setzen zu unterschiedlichen Zeitpunkten ein, putzen nie synchron, sind nie auf einer Linie, obwohl sie sich doch so gleichen.
Sonja Gangls Werke fordern mit ihren konzeptuellen Methoden die Betrachter_innen dazu auf, genau hinzusehen und das bisher Unbeachtete in den Fokus zu nehmen, Gegensätzlichkeit zu erkennen, vielleicht auch um die Ecke zu denken und imaginäre Grenzen zu durchbrechen. Das durch den Bezug zur Historie entstandene Fluidum ihrer „Supra-Linien“ impliziert die Hinwendung zu Gefühl, Spontanität und dem unablässigen Vergrößern von Freiheitsräumen, ist aber ebenso als Plädoyer gegen die Einschränkung dieser bedeutenden Werte zu lesen. Gleichzeitig wird die Stubenfliege aus „I borrowed optimism from the past“ zum Symbol der Diversität auserkoren und fungiert damit als Verweis auf die unzählbaren Möglichkeiten und Perspektiven unserer Gegenwart, im Umkehrschluss aber auch auf die aktuellen Probleme und Aufgaben, die unser Sehen und damit auch unser Denken bestimmen. Die Vergangenheit im Rücken, könnten ihre Fluglinien die Fliege überall hintragen. In welche Richtung es in Zukunft genau geht, lässt Sonja Gangl bewusst offen. Sie jedenfalls fährt die optimistische Linie, die Supra-Linie.
Das Ausstellungsprojekt „I borrowed optimism from the past“ wird im Nachklang des Würdigungspreises für Bildende Kunst des Landes Steiermark ausgerichtet. Die mit 10.000 Euro dotierte Auszeichnung wird alle drei Jahre einmalig an eine Künstlerin oder einen Künstler als Anerkennung eines ausgezeichneten künstlerischen Gesamtschaffens vergeben. Im Jahr 2018 ging diese Würdigung an Gangl, deren Œuvre von der Jury als herausragende zeichnerische Position der Gegenwart betont wurde. Im Rahmen der Ausstellung erscheint im Verlag revolver ein Katalog, der neben Werks- und Ausstellungsansichten Texte von Sandro Droschl (KM– Graz), Jana Franze (KM– Graz), Peter Geimer (Freie Universität Berlin), Elsy Lahner (Albertina Wien) und Robert Woelfl (freier Schriftsteller, Wien) beinhaltet. Zudem veröffentlicht das Online-Magazin des Hauses, das KM–Journal, neben weiterführenden Beiträgen ein Video-Interview mit der Künstlerin.
Sonja Gangl (*1965 Graz, lebt in Wien) studierte an der Akademie der bildenden Künste Wien bei Markus Prachensky und an der Universität für angewandte Kunst Wien bei Ernst Caramelle. Sie ist seit 2003 Mitglied der Wiener Secession. Ihre Ausstellung „Dancing with the End“ (2013/14) war die erste Einzelpräsentation, die das Albertina Museum in Wien einer weiblichen Künstlerin widmete. Gangls Arbeit war darüber hinaus in zahlreichen Institutionen zu sehen und ist über die Grenzen Österreichs bekannt. Unter anderem zeigte sie Einzelausstellungen im Studio der Neuen Galerie Graz (1998), im Kunstverein Wolfsburg (1999, 2000), am Museum Moderner Kunst Kärnten (2016) und mehrfach im Atelier Contemporary in Graz (2009, 2014, 2019) und der Galerie Krobath in Wien (2015, 2018). Neben dem Würdigungspreis für Bildende Kunst des Landes Steiermark (2018) ist Sonja Gangl unter anderem mit dem Kunstförderungspreis für bildende Kunst der Stadt Wien (1992), dem Kunstförderungspreis der Stadt Graz (2002), dem Förderungspreis des Landes Steiermark für zeitgenössische bildende Kunst (2004), dem BAUHOLDING-STRABAG Art AWARD (2005), dem Kunstpreis der Stadt Graz (2008) und dem Preis der Stadt Wien für Bildende Kunst (2016) ausgezeichnet worden.